Rede: Regelung der Suizidhilfe


Deutscher Bundestag – 20. Wahlperiode – 115. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 06. Juli 2023

Tagesordnungspunkt 5, ZP 16:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Lars Castellucci, Ansgar Heveling, Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Dr. Konstantin von Notz, Petra Pau, Stephan Pilsinger, Benjamin Strasser, Kathrin Vogler und weiteren Abgeordneten
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Hilfe zur Selbsttötung und zur Sicherstellung der Freiverantwortlichkeit der Entscheidung zur Selbsttötung
Drucksache 20/904, Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) Drucksache 20/7624

b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten der Abgeordneten Katrin Helling-Plahr, Dr. Petra Sitte, Helge Lindh, Dr. Till Steffen, Otto Fricke und weiterer Abgeordneter
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Suizidhilfe
Drucksache 20/2332
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) Drucksache 20/7624

c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Renate Künast, Dr. Nina Scheer, Katja Keul, Dr. Edgar Franke, Canan Bayram, Lukas Benner, Matthias Gastel, Dirk Heidenblut und weiteren Abgeordneten
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben und zur Änderung weiterer Gesetze
Drucksache 20/2293
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) Drucksache 20/7624

Namentliche Abstimmungen

ZP 16) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Martina Stamm-Fibich, Renate Künast, Ansgar Heveling, Dr. Lars Castellucci, Katrin Helling-Plahr, Benjamin Strasser, Helge Lindh, Stephan Pilsinger, Dr. Nina Scheer, Kathrin Vogler, Dr. Petra Sitte, Kerstin Griese, Lukas Benner, Dr. Konstantin von Notz, Dr. Till Steffen und weiterer Abgeordneter
Suizidprävention stärken, Drucksache 20/7630

 

Dr. Nina Scheer (SPD):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben als Gesellschaft die Herausforderung, zwei Dinge zusammenzubringen, und zwar sowohl den Schutzauftrag, der in Bezug auf das Leben besteht, als auch all das, was das Leben ausmacht, zu respektieren. Dazu gehört eben auch – das hat das Verfassungsgericht klargestellt – das Recht auf selbstbestimmtes Sterben, und dieses Recht umfasst auch, sich Hilfe von Dritten dazuzuholen. Das gehört mit zu diesem verfassungsgerichtlich bestätigten Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben, und damit gehört es zum Leben, zu unserer Gesellschaft dazu. Diese beiden Dinge müssen wir zusammenbringen.

Deswegen möchte ich hier auf ein paar Dinge eingehen, die von denen fälschlich dargestellt wurden, die den Eindruck erwecken wollen, man könnte mit Stigmatisierung und Ausblenden dieses Bereichs, des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben, Leben retten. Ich erkläre eindeutig, dass dies nicht der Fall ist, dass das eine Irreführung ist, dass uns das nicht weiterbringt und dass das auch die Menschen fernhalten wird vom Hilfesuchen, von den Möglichkeiten, sich beraten zu lassen. Denn häufig sind es ja Menschen, die aus einer Verzweiflung heraus auf diese Gedanken kommen, und daraus erwächst ein Suizidwunsch.

Wie sollen wir diesen Menschen begegnen? Wir haben einen Schutzauftrag. Wir müssen ihnen natürlich irgendwie einen gesellschaftlichen Anknüpfungspunkt bieten, den sie bis dahin verloren haben. Wir müssen einen niedrigschwelligen Anknüpfungspunkt schaffen, ein Beratungsstellenetz, wie wir es in unserem Gesetzentwurf vorsehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)

Das muss natürlich unentgeltlich sein, und das darf natürlich nicht kommerziell betrieben werden, wie das von Vertretern der anderen Gruppe unterstellt wird. Das Beratungsangebot muss so niedrigschwellig sein, dass sich tatsächlich jeder angesprochen fühlt, übrigens auch unter 18-Jährige, auch wenn – das eint beide Gesetzentwürfe – der Anwendungsbereich der Gesetzentwürfe selbstverständlich nur Volljährige umfasst. Es ist ganz wichtig, das noch mal hier festzuhalten. Es muss sich jeder angesprochen fühlen; denn nur so können wir gewährleisten, dass Leben gerettet wird. Alles andere, denke ich, führt uns hier nicht weiter und verfälscht die Sachlage.

Ich möchte zurückkommen auf die Frage, wie wir dann mit der Feststellung dieses freien, selbstbestimmten, autonom gefassten und dauerhaften Willens umgehen, die das Verfassungsgericht als Kriterium aufgestellt hat. Das ist genau die Frage: Wie stellen wir den Willen fest, wenn wir uns auf den Weg des Strafrechts begeben, wenn wir im Grundsatz erklären: „Die Herangehensweise im Umgang mit dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist unter Strafe gestellt. Die Hilfeleistung dazu ist unter Strafe gestellt“?

Wenn das der Grundsatz ist, dann halte ich es für sehr naheliegend, dass die Menschen, die sich mit dem Gedanken umgeben oder bei denen er schon sehr weit ausgereift ist, weil sie in einer existenziellen Leidenssituation stecken, etwa aufgrund von Vorerkrankungen, sich nicht an die Gesellschaft wenden, sondern dass sie – in der Stigmatisierung verhaftet, alleingelassen – einen bestimmt nicht würdevollen Weg wählen, weil sie allein gelassen sind.

Genau an der Stelle setzt unser Schutzauftrag ein. Wir müssen sagen: Hier haben wir den Schutzauftrag, diesen Menschen zu helfen, ihrem Recht auf selbstbestimmtes Sterben Geltung zu verleihen und diese Hilfe wirklich zu gewähren.

Wenn aber das Strafrecht eine Stigmatisierungswirkung entfaltet – und das wird es tun -, dann werden die Ärzte nicht verfügbar sein, dann werden die Beratungsstellen, deren Angebote von uns niedrigschwellig angelegt sind, nicht verfügbar sein. Wenn diese nicht da sind, dann kann auch nicht das Recht auf selbstbestimmtes Sterben verwirklicht werden, dann kann auch nicht demjenigen gesellschaftlich begegnet werden, der möglicherweise doch keinen festen Willen hatte, sondern der wieder zurück ins Leben finden möchte. Auch der wird dann nicht erfasst.

Insofern ist es ein Trugschluss, zu glauben, dass mit der Wiederverfestigung eines Straftatbestandes Leben geschützt wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)

Daher bitte ich, den anderen Gesetzentwurf abzulehnen; denn nur so können wir das Recht auf selbstbestimmtes Sterben wirklich erfassen.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)

Zur Rede in der Mediathek des Deutschen Bundestags.